Ich habe nie in der DDR gelebt, sie immer nur besucht, während meines Studiums in West-Berlin.
Wir mussten in die Jebensstraße und uns in Amtsstuben mit bräunlich-grün-grauer Färbung und Lysolgeruch ein Tagesvisum abholen und dann gingen wir auf Tagesexkursion mit Zwangsumtausch.
Davon könnte ich berichten an dieser Stelle.
Anstattdessen habe ich heute morgen ein Buch hervorgezogen, weil ich mich an einen vor Jahren gelesenen Text erinnerte, der mir eine gute, weil undrastische und deshalb sehr einleuchtende Beschreibung lieferte, warum viele Menschen der DDR heute immer noch nachtrauern und sie gleichzeitig schauerlich war. Aus diesem möchte ich zitieren.
Es ist ein Text über Ambivalenz, von Irina Liebmann, einer Intellektuellen, die dort gelebt hat und aus dem weiten räumlichen und zeitlichen Abstand zurückblickt:
"... Wenn ich an die DDR denke, dann habe ich zuallererst das Gefühl einer guten, friedlichen Zeit. Stille Straßen, Sonne auf dem Schulweg, Geschäfte, in denen es immer dasselbe zu kaufen gibt, ein kleines ausreichendes Sortiment, dazu die Überraschungen: Es gibt Tomaten! ...
Es ist auch viel Kindheit dabei, viel Deutschland in den 50er Jahren. Aber wenn ich mir dann vorstelle, ich könnte wieder rein in die Zeit, dann würde ich es nie, nie wieder wollen. ...
Immer unvorstellbarer werden mir mit der vergehenden Zeit unsere Pioniertücher und FDJ-Hemden, aber die sind es nicht einmal, die mir einen Rückweg für immer versperren, sollte er möglich sein, sondern das Gefühl, dass ich eine riesenhafte Erziehungsanstalt betreten würde, ein Gebiet, in dem alle zutiefst der Überzeugung sind, dass es kein Land der Welt geben kann, wo die Menschen einfach machen, was sie wollen.
Das war die erste, die grundlegendste Vereinbarung, die es in der DDR gab: Bürger eines Staates zu sein, heißt, sich zu fügen."
aus: Irina Liebmann, Nichts war gemütlicher als diese Diktatur, Die "kritischen" Intellektuellen in der DDR (erschienen in: 10 Jahre Villa Aurora, 1995-2005, Herausgeber: Villa Aurora e.V., München, 2005, S. 64-65)
Irina Liebmann ist 1943 in Moskau geboren und in der DDR aufgewachsen. Sie studierte Sinologie in Leipzig und reiste 1988 nach West-Berlin aus. Zahlreiche Preise und Stipendien. Der Text entstand während ihres Stipendiaten-Aufenthaltes in der Villa Aurora 1995